Essstörungen bei Klienten im Coaching erkennen
(Von Michaela Schubert) Hattest du schon Klienten, für die das Thema Essen eine zentrale Rolle spielte? Der Übergang von auffälligem Essverhalten zu einer manifesten Essstörung erfolgt dabei häufig unbemerkt, was das Risiko einer Chronifizierung deutlich erhöht. Es ist wichtig, Essstörungen in einem Coaching auch zu erkennen.
Wie kannst du als Coach oder Berater Anzeichen von Essstörungen erkennen?
Und was sind die nächsten Schritte, um den Betroffenen zu helfen?
Coaching- und Beratungsangebote sind oft niedrigschwellige Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen unterstützen – häufig sogar, bevor sie therapeutische Hilfe suchen. Gerade bei jungen Erwachsenen sind psychische Belastungen zunehmend ein Thema: Laut Medienberichten hat die Zahl der Betroffenen in den letzten Jahren stark zugenommen. Essstörungen gehören dabei zu den häufigsten Problemen.
Vielleicht hattest auch du bereits Klienten, bei denen Essen eine Schlüsselrolle spielte. Wie kannst du also Essstörungen frühzeitig erkennen? Und welche Schritte solltest du einleiten, um Betroffene angemessen zu unterstützen?
Arten von Essstörungen
Es gibt viele Arten von Essstörungen, die vom essgestörten Verhalten abzugrenzen sind.
1. Anorexie nervosa
Die bekannteste ist die Magersucht. Diese ist auch unter dem Begriff Anorexia nervosa bekannt. Übersetzt heißt Anorexie so viel wie Appetitlosigkeit. Erst durch den Zusatz „nervosa“ (nervlich bedingt) kommt die Schwere dieser psychischen Erkrankung zum Ausdruck. Wie der Name es bereits erahnen lässt, stehen Verzicht und Kompensierung von Nahrung im Mittelpunkt.
2. Bulimia nervosa
Am zweitgeläufigsten ist die Bulimie, oder auch Ess-Brech-Sucht genannt. Betroffene leiden an heimlichen, rauschartigen Essattacken, bei denen sie in kürzester Zeit Unmengen an hochkalorischen Lebensmitteln verschlingen. Die Häufigkeit solcher Attacken variiert individuell. Von einmal wöchentlich bis 10-mal pro Tag und mehr ist alles möglich. Ist der Anfall vorbei, erbrechen sich die Betroffenen, sind in einem extremen Maß sportlich aktiv, nehmen Abführmittel oder hungern.
Nicht selten greifen Erkrankte auf alle diese aufgezählten Gegenmaßnahmen zurück. Hauptsache die eben verschlungene Nahrung verschwindet ganz schnell wieder aus dem Körper.
3. Binge Eating Disorder
Die Essanfallstörung bzw. Binge Eating Disorder kämpft noch um eine gewisse Anerkennung. Im ICD 10 ist sie nicht gelistet, sondern wird unter den nicht näher bezeichneten Essstörungen (F 50.9) eingeordnet. Sogenannte Binge Eater erleben wie bei der Bulimie suchtartige Essanfälle, nach denen aber keine kompensatorischen Maßnahmen erfolgen.
Die tägliche Konfrontation mit den Mahlzeiten ist für Menschen mit Essstörungen die Hölle.
Essstörungen als Sucht begreifen
Essstörungen gehören zu den stoffungebundenen Süchten und sind durch zwanghafte Verhaltensweisen gekennzeichnet. Das Belohnungszentrum im Gehirn reagiert ähnlich wie bei Abhängigen, die nach Substanzen wie Heroin, LSD, Alkohol oder Nikotin süchtig sind. Daher können Essanfälle oder Hungern genauso abhängig machen wie Zigaretten.
Das Fatale dabei: Wir müssen essen, um zu leben.
Ein Raucher hat die Möglichkeit, ein erfülltes Leben ohne Zigaretten zu führen. Menschen mit einer Essstörung sind dagegen ihr ganzes Leben lang auf die Droge Essen angewiesen.
Die tägliche Konfrontation mit den Mahlzeiten ist für Menschen mit Essstörungen die Hölle: entweder, weil sie nichts herunterbekommen aus Angst, an Gewicht zuzulegen, oder weil sie befürchten, einer Essattacke zu erliegen.
Kein Körperteil ist nach den persönlichen Maßstäben perfekt.
Typische Warnsignale von Essstörungen
Eine Essstörung entsteht nicht über Nacht. Durch die Pubertät oder gravierende Lebenseinschnitte verändert sich die eigene Körperwahrnehmung. Die Beine sind auf einmal zu fett, der Bauch zu dick und der Po zu wabbelig. Kein Körperteil ist nach den persönlichen Maßstäben perfekt.
Die Unzufriedenheit dringt mit der Zeit in jeden Gedanken.
Nichts anderes hat mehr Platz, außer Kochen, Backen, Essen, Nicht-essen und eventuelle Gegenmaßnahmen.
Weitere typische Warnzeichen sind:
- häufige Ausreden, um (gemeinsame) Mahlzeiten zu vermeiden
- zunehmende Isolation und Vernachlässigung von Hobbies, Schule, Beruf
- körperliche Probleme wie eingerissene Mundwinkel, kaputte Zähne und Herz-/Kreislaufstörungen
- massiver Gewichtsverlust oder massive Zunahme in kürzester Zeit
- ausgeprägter Bewegungsdrang
- Unruhe und Konzentrationsschwäche
- diätisches Essverhalten
- in der Öffentlichkeit wird ganz wenig bis gar nichts gegessen
Unterschied Essstörungen vs. essgestörtes Verhalten
Bestimmte Ereignisse wie der Tod eines nahestehenden Menschen, Trennung und Verlust lösen bei manchen ein essgestörtes Verhalten aus. Kurzzeitig wird bewusst oder unbewusst das Essverhalten verändert, indem beispielsweise die üblichen Portionsgrößen immer kleiner werden. Die eigenen Sorgen schnüren nicht nur sprichwörtlich die Kehle zu. Andere Menschen essen in Stressmomenten übermäßig viel.
Gründe, um zu viel oder zu wenig zu essen, gibt es wie Sand am Meer.
Dazu zählt übrigens auch die klassische Diät. Ist das ursprüngliche Problem mithilfe von essensunabhängigen Strategien gelöst bzw. überstanden, normalisiert sich bei den meisten das Essverhalten von ganz allein.
Bei essgestörten Personen ist das dagegen nicht der Fall.
Sie versuchen durch die Nahrungsaufnahme bzw. –verweigerung bestehende Konflikte zu bekämpfen. Doch das funktioniert auf Dauer nicht. Wie bei anderen Süchten auch, wird bei Essstörungen das Verlangen nach dem Suchtmittel immer stärker. Während sich die Gedanken nur ums Essen drehen oder der Kontrollverlust zu einer hochkalorischen Essattacke drängt, vergessen die Betroffenen (kurz) das eigene Leid.
Der Übergang von essgestörtem Verhalten in eine handfeste Essstörung passiert fast unbemerkt.
Ein Wechsel innerhalb der Essstörungen ist ebenfalls sehr häufig. Fakt ist: nicht jede Diät führt in eine Essstörung, aber nahezu jede Essstörung beginnt mit einer Diät.
Fachärztliche Hilfe hinzuziehen
Du hast Klienten im Coaching oder in der Beratung, bei denen du erste Anzeichen einer Essstörung wahrnimmst? Dann ist erst mal ganz wichtig und höchste Priorität: bitte Ruhe bewahren!
Des Weiteren sei dir bewusst, dass der Betroffene den Weg aus seiner Sucht heraus selbst wollen muss.
Zwang und Druck vom Umfeld verstärken schlimmstenfalls die Symptomatik.
Sind die Anzeichen unverkennbar einer Essstörung zuzuschreiben, ist ein Besuch beim Hausarzt zu empfehlen. Meistens streiten Essgestörte ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab oder haben dafür andere plausible Erklärungen. Betroffene leugnen anfangs vehement, dass sie ein Problem mit dem Essen haben. Auch, wenn das gestörte Essverhalten offensichtlich das Gegenteil beweist. Unzählige glaubhafte Ausreden helfen, die schambesetzte Erkrankung vor sich selbst und dem sozialen Umfeld zu verheimlichen.
Anhand einer körperlichen Untersuchung samt Blutentnahme kann festgestellt werden, welchen Schaden die entsprechende Essstörung bereits angerichtet hat.
Bei Frauen ist auch ein Kontrollbesuch beim Gynäkologen ratsam. Durch eine Mangel-/Unterernährung bilden sich die Geschlechtsorgane zurück bzw. stellen ihre Funktion vorübergehend ein. Dies führt häufig zum Ausbleiben der Menstruation, die eine Unfruchtbarkeit nach sich ziehen kann.
Therapie in Betracht ziehen
Oftmals stellen Beratung und Coaching erste Anlaufstellen für Betroffene dar, da sie als niederschwelliger oder weniger angstbesetzt wahrgenommen werden als entsprechende therapeutische Einrichtungen.
Viele Mädchen- und Frauenberatungsstellen bieten auch essstörungsspezifische Angebote und Selbsthilfegruppen an.
Die Niederschwelligkeit von Coaching- und Beratungsangeboten bietet Betroffenen die Möglichkeit, die bestehenden Probleme einordnen zu können und den Weg für weitere Hilfsmaßnahmen anzubahnen. Wie aber bereits deutlich geworden ist, sind Essstörungen schwerwiegende psychische Erkrankungen.
Umso früher eine Essstörung behandelt wird, desto höher sind die Chancen einer erfolgreichen Behandlung.
Wenn du Betroffene in Beratung oder im Coaching hast, solltest du daher frühzeitig über die Erkrankung, Folgen und die Wichtigkeit therapeutischer Maßnahmen aufklären und gemeinsam mit dem Klienten eine schnelle Überleitung in ein therapeutisches Setting anstreben.
Es gibt unterschiedliche ambulante und stationäre Therapiemodelle. Ob eine Behandlung stationär oder ambulant eingeschlagen wird, hängt mit dem Krankheitsgrad und -einsicht zusammen.
Eine stationäre Behandlung ist indiziert, wenn:
- Trotz ambulanter Behandlung keine Besserung auftritt
- Wenn das zu geringe bzw. zu hohe Gewicht lebensbedrohlich ist
- Somatische Komplikationen bestehen
- Schwere psychische Komorbitäten bestehen (Suizidgedanken, schwere Depression)
Sollten deine Klienten minderjährig sein, solltest du in jedem Fall die Erziehungsberechtigten informieren.
Für Angehörige ist der Umgang mit Essstörungen genauso schwer, wie für den Betroffenen selbst.
Konflikte und Missverständnisse sind vorprogrammiert. Vielleicht gibt es in der Nähe Beratungsstellen oder Angehörigengruppen, in denen Angehörige Halt sowie die nötigen Informationen finden. Ein stabiles Umfeld trägt einen großen Anteil zur Genesung bei.
Michaela Schubert, Autorin von:
MICHAELA SCHUBERT
Essstörung – bin ich betroffen?
Fallbeispiele und Insiderinformationen für Betroffene und Außenstehende. Das ABC der Magersucht, Essanfallstörung und Ess-Brech-Sucht.
ISBN 9783982530840